Wie lässt sich die Kindheit in die Erwachsenenwelt retten? Das Musical „Mary Poppins“, bei der Premiere stürmisch gefeiert, führt es bonbonbunt vor. Eine Botschaft: Verliert trotz aller Zwänge nicht das Glück aus den Augen! Die Show ist ein Glücksfall für Stuttgart.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Supercali-was? Wer kennt das Zauberwort? Auf dem roten Teppich im Apollo-Theater treten am Sonntagabend Promis zum Zungenbrechen an. In die Mikros der Radioreporter sollen sie einen Nonsens-Begriff sagen. Der spielt im Musical, im Buchstabierballett getanzt, bei dem jeder Waldorfschüler vor Neid erblasst, eine zentrale Rolle. Die Fehlergefahr ist groß, was für O-Töne ein schöner Spaß ist.

 

„Supercalifragilisticexpialigetisch“ – wortwörtlich lässt sich das nicht übersetzen. Die 34 Buchstaben beschreiben das Unbeschreibliche. Den Sinn verstehen die Premierengäste (dabei: VfB-Spieler Daniel Ginczek, Ex-VfB-Profi Guido Buchwald, Dschungel-Königin Maren Gilzer, Ballett-Intendant Eric Gauthier, Musicalstar Kevin Tarte, das Schlagerduo Anita & Alexandra Hofmann, Travestie-Lady Frl. Wommy Wonder) rasch. Wie beim Teelöffel Zucker kann Unsinn das Bittere des Lebens versüßen. Supercali- was? Na, klar: Fragilistic! Expiali! Getisch!

Poesievoller Spaziergang durch ein Bilderbuch

Auf, verehrte Zuschauerinnen und Zuschauer, lassen Sie Ihre Gedanken fliegen! Die Bühne lädt ein zu einem poesievollen Spaziergang durch ein Bilderbuch! An jeder Ecke blühen Verrücktheiten! An spaßig vorgetragenen Belehrungen mangelt es in diesem Paradies der Achtsamkeit nicht. Der pädagogische Zeigefinger tanzt im „Dumdiddldiddl Dumdiddldei“. Achte auf die kleinen Dinge des Lebens. Erkenne stets den Funken Magie hinter allem und glaube daran, dass sich deine Wünsche erfüllen.

„Alles, was wir wollen, kann passieren!“ Dieser Refrain begeistert Elisabeth Seitz, die Vierte am Stufenbarren bei den Olympischen Spielen in Rio. 22 Jahre ist sie erst, ja, da kann noch viel passieren. „Ziemlich bunt und stimmungsvoll, ein geniales Musical“, schwärmt die Turnerin. Der Schauspieler Peter Ketnath („Soko Stuttgart“) lobt: „Die Geschichte baut die Brücke von der Kinder- zur Erwachsenenwelt.“ Tobias Siewert , der Designer des Modelabels einelinie, ist hin und weg. Umwerfend findet er vor allem die Szene, in der sich der graue Park in eine farbenprächtige Fantasiewelt verwandelt: „So stelle ich mir einen LSD-Rausch vor.“

Ringer-Weltmeister Frank Stäbler schwärmt: „Die Show ist toll gemacht. Die Geschichte so als Musical umgesetzt, das weckt Kindheitserinnerungen.“ Patrick Mikolaj, der Blogger vom Unnützen Stuttgartwissen, meint: „Bei diesem Musical stimmt einfach alles – Musik, Kulissen, Kostüme, der Humor. “ Mary Poppins, sagt die Künstlerin Iris Caren von Württemberg, verkörpert für sie „ eine besondere Kraft der Magie, Fantasie und Musik, die Kinderherzen öffnen kann“. CDU-MdB Stefan Kaufmann kann in der Show wieder lachen. Am Vorabend war ihm das Lachen vergangen – man hatte ihm sämtliche Wertsachen, bis aufs Handy, gestohlen. Kann Mary alles herbeizaubern? Magische Kräfte hätte Schauspielerin Natalia Wörner brauchen können. Nach einer Lesung hängt sie im Stau fest und kommt verspätet.

Für den Turner Marcel Nguyen ist der Sonntagabend eine echte Premiere – denn er hat „Mary Poppins“ auch als Film noch nie gesehen. Umso mehr freut er sich, als am Ende das resolute Kindermädchen über die Köpfe der Zuschauer davonschwebt. Ja, das ist nicht nur super. Das ist sogar: Supercalifragilisticexpialigetisch!

Der Erfinderin von Mary Poppins hat der Film nicht gefallen

Dass man den Film von 1964 nicht kennen muss, um fast drei schöne Stunden zu erleben, überrascht Musical-Legende Sir Cameron Mackintosh nicht. Dem 70-Jährigen, der auf den roten Teppich mit dem Komponisten George Stiles kam und am Ende im stürmischen Applaus vergnügt auf der Bühne tanzt, ist es ein Anliegen, eines klarzumachen: Sein 2004 uraufgeführtes Musical basiert auf der Buchreihe von Pamela Travers, nicht auf dem Disney-Film. Nur die Musik stammt aus dem Hollywood-Klassiker – aber es gibt auch neue Songs. „Der Film hätte auf der Bühne nicht funktioniert, denn es fehlt ihm an Dramatik“, sagt der Sir. Die Schriftstellerin, die 1996 mit 97 Jahren gestorben ist, konnte den Disney-Film nicht leiden.

Sir Carmeron zählt zu den reichsten Briten. Auch er beherzigt seine nicht ganz neue Musical-Botschaft, dass es nicht aufs Geld ankommt. Der Produzent könnte sich auf seinen Millionen oder gar Milliarden ausruhen, doch stattdessen gibt er in Stuttgart alles, auf dass auch das deutsche Publikum sein Kindermädchen liebt. Und diese Leidenschaft ist im Stück bei allen zu spüren – von den Kindern bis zur alten Vogelfrau.

Achtung, die Verjüngungsmaschine ist angelaufen! Wer als erwachsener Mensch in die Show geht, könnte sich danach im Zauberbann von Mary Poppins wie ein Kind fühlen und verrückte Dinge tun. So schön ist die Welt! Man muss nur seinen Regenschirm aufspannen und abheben.