Früher war es fast normal, dass die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ nach Stuttgart ging. Doch in den vergangenen zehn Jahren konnte man sich nicht mit dem Titel schmücken. Nun aber haben die Kritiker der Zeitschrift „Opernwelt“ Stuttgart wieder gewählt.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - 1994, 1998, 1999, 2000, 2002 und 2006 waren die Jahre, in denen die Staatsoper Stuttgart den Titel „Opernhaus des Jahres“ in der Kritikerumfrage des Fachmagazins „Opernwelt“ mit einer fast bayernmünchenhaft anmutenden Konstanz einheimste, und natürlich regte sich da manchmal in der Szene und an konkurrierenden Häusern auch leicht maulig (München!) der Unmut. Immer Stuttgart! Folgte dem rhetorischen Reflex allerdings ein wenig Reflektion, änderte sich die Ansicht gleich im Zusatz. Wer sonst?, hieß es dann anerkennend.

 

Diese Zeit ist, alles in allem genommen, das lange Eineinhalbjahrzehnt des Intendanten Klaus Zehelein gewesen, der Anfang der Neunziger von der auch schon sehr diskussionsfreudigen Oper in Frankfurt gekommen war, um in Stuttgart ernsthaft noch einmal ein neues Modell auszuprobieren. Er nannte das, in seinem an Theodor W. Adorno geschulten Jargon: „produktive Arbeitskonstellationen antizipieren“. Zehelein hatte als Dramaturg in Frankfurt oft und gerne mit der Regisseurin Ruth Berghaus zusammengearbeitet. Das war bereichernd gewesen, hatte aber auch zu einer Art Eindimensionalität geführt. Zehelein wusste, wie er resümierte, stets, „wie Ruth denkt“. Diese Art von einerseits schöner Vertrautheit, die offener Produktivität (und Streit) dann aber doch häufig entgegensteht, wollte er in Stuttgart vermeiden, und würfelte deshalb auch Kollegenkonstellationen zusammen, die man auf den ersten Blick nicht unbedingt für einen Pasch gehalten hätte: zum Beispiel Sergio Morabito, einen Musikwissenschaftler, und Jossi Wieler, einen Schauspielmann.

Die Stringenz in der Arbeit sucht bundesweit ihresgleichen

Wieler und Morabito, wie wenig später (genauer: seit Händels „Alcina“ von 1998, die gerade wiederaufgenommen wird) bereits fast selbstverständlich im Sprachgebrauch als kongenialer Regisseursduoname, starteten mit den unterschiedlichsten Motivationen, die man beim Musiktheaterinszenieren haben kann: Morabito schaute von innerhalb der Musik nach außen, Wieler betrachtete die Figuren von außen nach innen. Das ließ Raum für Kontroversen, und man merkte den entwickelten Charakteren später an, dass sie nicht dramaturgisch ausgestanzt worden waren, also Pappkameraden geworden, sondern ein richtiges Leben bekommen hatten. Weil dieses ästhetische Leben glücklicherweise oft mit dem unseren, realen, zu tun hatte, zumindest in Teilen, rannten die Leute der Stuttgarter Oper, um es mal so zu sagen, regelrecht die Bude ein. Als sich nach der Ära Zehelein (2006 ff.) die Stimmung verkünstelte und teilweise unter Albrecht Puhlmann längst überlebt geglaubte Quasi-Feudalstrukturen entstanden, geriet die Stuttgarter Oper in Gefahr, ihren Nimbus zu verspielen.

Da allerdings waren nun wieder Jossi Wieler und Sergio Morabito vor, die sich von 2011 an in der Pflicht fühlten, das Erbe zu retten und zu mehren. Nach Anfangsfehlern hat das in der Zusammenarbeit mit der stellvertretenden Direktorin Eva Kleinitz zu einer Stringenz in der Arbeit geführt, die nicht nur bundesweit wieder ihresgleichen sucht. Die Stuttgarter Oper, immer auch gestützt durch ihr experimentell aufgeschlossenes, singuläres Publikum, ist wieder, was sie in der Zehelein-Zeit war - dezidiert anders als die anderen großen Häuser: Stars, die sie nicht so nennen würde, kreiert sie selber, wie es, darüber hinaus, sowieso erst mal um Gedankenverbreitung geht, nicht um vordergründige Prachtentfaltung. Das Profil der Stuttgarter Oper ist mithin ein menschenfreundliches Gesicht. Wer wissen will, was die Kunst zum Humanen beitragen kann, ist hier - ob Jung , ob Alt – willkommen. Auch dafür gibt es, nach zehn Jahren Abstinenz, wohl diesen Preis. Stadt und Land sollten ihn honorieren, indem sie ein wenig mehr Engagement zeigen, wenn es um die längst fällige Sanierung eines einzigartigen Hauses geht. Wer von Stuttgart spricht, meint nicht immer nur Automobilkonzerne, sondern gar nicht mal selten: die Stuttgarter Oper.